Stressbelastung - einmal quer gedacht
In einem Artikel des GEO-Heftes "Nehmt euch Zeit. Mut zur Muße!" habe ich jetzt folgende Sätze gefunden, die mich veranlassen, über die Stressbelastung in der heutigen Gesellschaft nachzudenken und Quergedanken zu Themen anzustellen, mit denen ich mich bereits früher beschäftigt habe:
Dass wir den Konsum- und Erlebnis-Imperativ so brav befolgen, hat auch damit zu tun, dass die Bibel ihre Kraft verloren hat. Der Glaube an ein Leben nach dem Tod ist uns abhanden gekommen. Ohne Jenseits-Erwartung fühlt sich der Einzelne gefordert, sein Glück im Hier und Jetzt zu schmieden und die irdische Zeitspanne so intensiv und umfassend wie möglich zu nutzen. Das Ergebnis: ein Leben, in dem unheimlich viel passiert und in dem dennoch (...) "Zeithungersnot" herrscht.
GEO 08/2014 Seite 120
In dem Artikel werden interessante Ausführungen über die Stressbelastung unserer heutigen Arbeits- und Freizeitwelt gemacht, die lesenswert sind. Die Spirale des Wachstums überfordert danach den Menschen.
Zunächst einmal möchte ich hier auf meine grundsätzlichen Ausführungen zur Familienpolitik verweisen. Darin habe ich dargelegt, dass Familien das natürliche Abbild einer arbeitsteiligen Gesellschaft sind. Jeder Eingriff des Staates in diese Strukturen überfordert die Familien, aber auch den Staat.
Auch die Frage, wohin uns die ungezügelte Konsumvielfalt führt, habe ich erst kürzlich unter der Überschrift Kartellverfahren - immer gerecht? thematisiert und dabei ausgeführt, dass diese Vielfalt nur möglich ist, weil deren Kosten ungerecht verteilt sind.
Dies sind zunächst einmal Ansatzpunkte, einen oberflächlichen Zusammenhang der Belastungen unserer Gesellschaft zu verstehen. Tiefer dringt man in die Fragen ein, wenn man Erkenntnisse aus der Evolutionslehre hinzuzieht.
Es gibt genügend Literatur, die die evolutionsgeschichtliche Verankerung unserer menschlichen Reaktionen auf äußerliche Reize und innere Bedürfnisse beschreibt.
Danach ist das menschliche Verhalten noch tief in der Steinzeit verankert. Dieses Verhalten war geprägt vom täglichen Kampf ums Überleben. Wenn der Mensch Hunger verspürte, musste er Beeren sammeln oder Tiere jagen. Diese Bedürfnisse nach Nahrung mobilisieren noch immer immense Aktivitätspotenziale, die ausreichend sind, um zum Ziel zu führen. Die Zufriedenheit stellt sich ein, wenn der Hunger gestillt und die Aktivitätspotenziale abgearbeitet worden sind. Den Hunger zu stillen, war also menschheitsgeschichtlich das Erfolgserlebnis!
Heute gehen wir in den Supermarkt und kaufen Fertiggerichte oder lassen uns gleich an der Würstchenbude um die Ecke oder im Restaurant mit einer ausreichenden Mahlzeit versorgen. Wir sind dann zwar satt, die vom Hunger aktivierten Potentiale können wir dabei aber nicht abarbeiten.
Nun hat der Mensch im Laufe seiner Entwicklung gelernt, seine Kräfte zu steuern und durch Vorratswirtschaft dafür zu sorgen, dass er auf Früchte seiner vorsorgenden Arbeit zurückgreifen kann, wenn ihn der Hunger ereilt. Das ist aber noch keine spezifische Fähigkeit des Menschen. Auch Tiere betreiben Vorsorge; man denke an das Eichhörnchen, das im Herbst Nüsse sammelt, den Eisbären, der sich rechtzeitig ein Fettpolster zulegt, und viele weitere Winterschläfer. Der innere Drang, ganz konkret Vorsorge zu betreiben, um in Zeiten mangelnden Nahrungsangebots auf Reserven zurückgreifen zu können, ist auch nur ein natürliches Aktivitätspotential. Der Zusammenhang zwischen Antrieb und Tätigkeit ist immer noch körperlich erlebbar.
Erst die arbeitsteilige Gesellschaft mit einer nach Berufen spezialisierten Herstellung von Waren und Dienstleistungen zur Befriedigung des Lebensunterhalts hat das Erfolgserlebnis des eigenen Handelns verlagert. Das menschliche Zusammenleben war aber in den bäuerlichen und handwerklichen Tausch-Gesellschaften noch immer so angelegt, dass der Grund der jeweils ausgeübten Tätigkeit noch immer als selbstbestimmte Versorgungsleistung im Dienste des gemeinsamen Überlebens erfahrbar war.
Völlig anders sieht es in unserer heutigen Industriegesellschaft aus.
Die Tausch-Wirtschaft ist durch eine intensive Geld-Wirtschaft ersetzt worden. Darunter leidet das Gespür für den Wert der Arbeit.
Insbesondere aber bedarf es nun einer hohen geistigen Anstrengung, zu verstehen, warum der Mensch einer Tätigkeit nachgehen muss, die ihm die finanziellen Möglichkeiten verschafft, die Waren und Dienstleistungen einkaufen zu können, die er je nach Umfang und Zeitpunkt des Bedarfs benötigt. Und auf der Seite des Arbeitgebers bedarf es der Einsicht, einen gerechten Lohn zu zahlen, damit der Arbeitnehmer sein Auskommen hat.
Besonders schwierig wird es, wenn wir alle noch Steuern an den Staat zu entrichten haben. Dieses "Beisteuern" findet seinen Ursprung allein in der völligen Loslösung von Leistung und Gegenleistung; vergleiche § 3 Absatz 1 Abgabenordnung.
Man sollte meinen, dass der Mensch im Laufe der industriellen Entwicklung und der intensiven Bildung als Vorbereitung auf das Leben gelernt hat, damit umzugehen. Das mag in der Theorie so sein. Allein die Diskussionen rund um die Steuerlast lassen Zweifel aufkommen.
Entscheidend aber ist die Frage, ob auch die biologischen Steuerungsprozesse des Körpers die Entwicklung zur Industriegesellschaft mitgemacht haben?
Wenn uns die Evolutionstheorie lehrt, dass erst der Hunger die Aktivitätspotentiale zur Suche nach Nahrung frei setzt und diese Potentiale abgearbeitet sein müssen, damit sich Zufriedenheit einstellt und Raum für Muße ist, so komme ich zu dem Schluss, dass zeitlich unangepasster Leistungsdruck Ursache für das Empfinden von Stress ist. Die für eine erfolgreiche Arbeit erforderlichen Aktivitätspotentiale sind nicht mehr zeitgleich verfügbar. Sie müssen durch geistige Anstrengung und nach nicht mehr vom Körper gesteuerten Zeitvorgaben mobilisiert werden. Dies ist ein Vorgang, den wir evolutionsmäßig noch nicht verarbeitet haben. Die schnelle technische Entwicklung hat die schneckenhafte Evolution überrollt.
Politisch betrachtet sollten wir aus dieser Erkenntnis endlich die Konsequenzen ziehen. Schon seit längerer Zeit warnen Zukunftsforscher vor dem Ende der von ungezügeltem Wachstum geprägten Gesellschaft. Artikel wie der hier von mir reflektierte sollten uns Anlass geben, darüber nachzudenken, ob die industrielle Gesellschaft eine Pause einlegen muss, um dem Menschen wieder Zeit für Muße zu verschaffen. Oder muss es erst zur Katastrophe kommen? Auch das haben uns bereits die Evolutionsforscher gelehrt, Fortschritte macht eine ganze Art erst dadurch, dass diejenigen überleben, die die besten körpereigenen Werkzeuge zur Bewältigung der Veränderungen in ihrer Umwelt entwickelt haben.
28.07.2014 - überarbeitet am 30.07.2014
PS: Mir ist jetzt noch ein Spruch eingefallen, den ein Kollege bereits vor Jahrzehnten ständig auf den Lippen trug, wenn es um Menge und Qualität des Kantinenessens ging:
Der mäßig Hungrige ist am leistungsfähigsten!
Damit hatte er schon früh die oben geschilderten Zusammenhänge von Hunger und Aktivität auf den Punkt gebracht, was in umgekehrtem Zusammenhang folgendes Sprichwort bestätigt:
Satt macht träge!
Schade, dass die alten, in Sprichwörtern gefassten Volksweisheiten weitgehend der Schnelllebigkeit der Zeit geopfert worden sind. Aber vielleicht kann ich mit diesen Ausführungen einmal dazu anregen, ganz im Sinne der eingangs zitierten Passage über die wahren Werte des Lebens nachzudenken.
Chemie gegen den Stress?
Die Folgen der Stressbelastung kann man auch an anderer Stelle ablesen:
Wer ständiger Stressbelastung ausgesetzt ist und glaubt, sich nur noch mit einer Aufputschdroge davor retten zu können, sollte einfach mal darüber nachdenken, was er sich da antut. Und die Gesellschaft insgesamt muss einen Weg finden, das Wohl des Menschen höher zu bewerten als den wirtschaftlichen Profit der Finanzjongleure. Den Teufel mit Beelzebub auszutreiben hat noch nie geklappt.
25.08.2014